Projektionen - in der Psychotherapeutischen Therapie - also das, was der Pat. auf mich und andere projiziert, lehrt mich, wie er seine Wirklichkeit - z.B. bestimmte Konflikte, Beziehungen, Erinnerungen betreffend - wahrnimmt. Die Wieder-Spiegelung meiner Wahrnehmungen dieser seiner Realität an den Patienten wird zum wichtigen therapeutischen Schritt.

Setus Studt lässt uns durch die vorliegenden Arbeiten seine Projektionen miterleben, nachempfinden, zwar persönliche, aber keine im streng psychotherapeutischen Sinne.

Setus Studt nur als Fotographen zu bezeichnen, wäre zu kurz gesprungen. Er ist Künstler, Aktionskünstler, - vielleicht - Lebenskünstler, Politiker, Aktivist für eine im Zerfall befindliche Industrielandschaft, den von ihm so getauften Planet Alsen.

Planet Alsen - ein Planet im Sinne des Lexikons ?? (Planeten - im astronomischen Sinn - sind Wandelsterne, die nicht aus sich selbst leuchten, sondern nur im reflektierten Licht der Sonne oder anderer Sterne).

Planet Alsen - aber wohl mindestens im umgangssprachlich gebräuchlichen Sinne ein Planet, eine eigene Welt. Setus Studt fand und findet in diesem Mikrokosmos all das, was er auch im Makrokosmos antrifft. Er exploriert Alsen, aber meint vielleicht „das Ganze“. Buddhistische Mystiker sagen, dass in jedem Gegenstand unserer materiellen Welt das gesamte Universum verborgen liegt - und offenbart wird.

Wie sehen wir also die Wirklichkeit ? Erinnern Sie sich an das Kinderspiel: ich sehe was, was du nicht siehst?

What is reality Episode aus dem Zen: wir sind immer schon im nächsten Moment, nie im jetzigen Fotographie zeigt uns was uns vor Augen liegt (oder liegen könnte, wenn wir es denn wollten). Eine Kritik der Malerei an der Fotographie, es werde ja lediglich das abgebildet, was sowieso vor Augen liegt, strafen die Arbeiten Setus Studts Lügen: Wir sehen z.T. verblüffende Perspektiven, die wir so noch gar nicht wahrgenommen haben. In den Spiegelungen in seinen Bildern finden wir zu einer erweiterten Wahrnehmung der Wirklichkeit, die uns sonst häufig entgeht.

Ist nur die Natur, der Baum, die Blume, die ich berühren, betrachten oder riechen kann erlebenswerte Wirklichkeit und nicht der Wasserhahn, den ich morgens aufdrehe, der Einbauschrank aus dem ich mein Hemd nehme und die Hässlichkeit unserer zersiedelten Städte …

Hier: Die Wirklichkeit und die Poesie einer Industrielandschaft im Verfall …

Für meine Wahrnehmung arbeitet Setus Studt auch am Schutz dieser Zeugnisse unserer Kultur - ohne die Wertung schön oder häßlich - und sieht schon klar - vielleicht vor manchem von uns - das Werden im Vergehen oder die Faszination der Veränderung Hier könnte das Gautama Buddha zugeschriebe Zitat kommen, es gibt nichts Konstantes außer die Veränderung. Veränderung auf Alsen ist nicht nur das organisch-vegetative Überwuchern von durch Menschenhand erschaffenen Fabrikgebäuden, sondern für Setus Studt und andere Visionäre schon die Zukunft eines bewusst und zu neuem Nutzen gestalteten Raumes.

Ich kenne Setus Studts Arbeiten nicht nur von Alsen, sondern auch von seinen Streifzügen in Frankreich, von Landschaften und Orten, die mir persönlich vertrauter sind als die ehemaligen Zement- und Kalkwerke. In seiner Liebe und Aufmerksamkeit zum Detail, zur besonderen Perspektive, zu faszinierenden Strukturen, zu Spiegelungen und Projektionen, scheint er jede Realität in ihrer Besonderheit, ihrem So-sein, zu erfassen und zu würdigen.

Künstlerische Projektionen an diesem Ort: Zufall, kokettes Wortspiel oder logische Erweiterung einer ärztlichen und psychotherapeutischen Perspektive? Die Parallele von persönlichen, vielleicht krankhaften Projektionen als Mittel für individuelle Heilung und von künstlerischen Projektionen als Anregung für die Wahrnehmung und bewusste Neugestaltung eines wertvollen Raumes ? … Und dann ist da noch der ästhetische Wert der Arbeiten in ihrer Realität. Ich überlasse es Ihnen, sich der Faszination und Ästhetik des Werkes - und seinen Implikationen ganz hinzugeben…

Prof. Dr. Andreas Thie 2006